SO wird das ungarische Parlament gewählt

Budapest
Budapester Parlament - Foto: Flying Media Hungary

Am kommenden Sonntag (8. April) stehen die ungarischen Parlamentswahlen an, ca. 8 Millionen Wahlberechtigte sind aufgerufen, über die neue Zusammensetzung des Parlaments zu entscheiden. Darüber wird im In- und auch im Ausland sehr viel geschrieben. Aber wie werden die einzelnen Sitze überhaupt verteilt? Wir haben uns das ungarische Wahlsystem einmal angeschaut.
Im Grundsatz ist es an das deutsche Wahlsystem angelehnt, denn jeder in Ungarn lebende Wähler hat zwei Stimmen. Mit der einen wählt er einen Direktkandidaten, mit der zweiten kann für eine Partei oder eine nationale Minderheitenliste stimmen. Das neue Parlament wird 199 Mitglieder haben, davon 106 Direktkandidaten und 93 Listenmandatare.
Ein Direktmandat erlangt, wer in seinem Wahlkreis die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen kann. Sofern ein so gewählter Abgeordneter während der vierjährigen Wahlperiode verstirbt, wird in dem entsprechenden Wahlkreis eine Zwischenwahl durchgeführt, um einen neuen Direktkandidaten zu finden, es gibt – anders als in Deutschland – keinen Nachrutscher von der Parteiliste. Das war in der nun abgelaufenen Wahlperiode von besonderer Relevanz, weil der regierende Fidesz gleich zwei Nachwahlen und damit seine 2/3-Mehrheit Anfang 2015 verlor. Die höhere Zahl von Direktmandaten gegenüber Parteisitzen zeigt, dass das ungarische Wahlsystem grundsätzlich ein Mehrheitssystem ist. Entscheidend ist weniger, wie viel Prozent der Parteistimmen eine Liste erreicht, sondern wie sich die Direktmandate aufteilen werden. Hierfür sind aber regionale Stimmungen und Gegebenheiten ausschlaggebend, so dass eine genauere landesweite Vorhersage stets schwierig sein wird. Dieses System garantiert somit stehts eine gewisse Spannung bis zum Wahltag, denn der allgemeine Parteientrend, den die Meinungsforschungsinstitute ausgemacht haben, betrifft ist streng genommen nicht einmal die halbe Wahrheit.
Bei der Zweitstimme werden nur solche Parteien berücksichtigt, die die 5%-Hürde schaffen. Sofern sich zwei Parteien zu einem Wahlbündnis zusammenschließen, müssen sie zusammen 10% der Stimmen erreichen, um Berücksichtigung zu finden – dies betrifft bei diesen Wahlen das linke Bündnis aus MSZP und PM –, bei drei oder mehr Parteien sind es jeweils 15%. Erfolgreiche Direktkandidaten von Parteien, die diese Hürde nicht schaffen, werden aber auf jeden Fall ins Parlament einziehen. Sofern ein Kandidat bereits ein Direktmandat erlangte, rücken seine in der Liste hinter ihm stehenden Parteifreunde auf der Liste nach, dieses Vorgehen kennt man aus Deutschland.
Anstelle für eine Parteiliste können sich Wähler, die als Minderheitswahlberechtigte registriert sind, auch für eine Minderheitsliste entscheiden. Diese Listen werden bei der Verteilung der Parlamentssitze insofern bevorzugt, als bereits ein Viertel der durchschnittlich eigentlich erforderlichen Stimmen ausreicht, um einen Parlamentssitz zu erlangen, was in etwa 0,27% aller Parteilistenstimmen entspricht. Für weitere Sitze gilt auch hier die 5%-Klausel.
Die Ungarndeutschen verfehlten 2014 einen Sitz im Parlament mit 11.415 Stimmen deutlich, ca. 22.000 wären nötig gewesen. Da sich bereits bis Anfang März mehr als 27.000 Ungarndeutsche als Nationalitätenwähler registrieren ließen, erscheint es nun durchaus möglich, diesmal ein ungarndeutsches Mandat zu erlangen.
Dass die Anwesenheit von nationalen Minderheiten ein wichtiges Element des ungarischen Wahlsystems ist, zeigt sich auch daran, dass die Minderheiten, die zwar eine Liste vorlegen, aber keinen Sitz gewinnen, ihren ersten Kandidaten als Sprecher in die Nationalversammlung entsenden dürfen. Somit ist gesichert, dass jede Minderheit im Parlament zumindest gehört wird. Die Zahl der 93 Mandate über die Parteilisten reduziert sich um die Anzahl der gewählten Minderheitenvertreter. Sollte es dem Ungarndeutschen Emmerich Ritter also gelingen, als ordentlicher Abgeordneter ins Parlament einzuziehen, stünden für die „ungarischen“ Parteien nur noch 92 Listenplätze zur Verfügung.
„Überhangmandate“ und „Ausgleichsmandate“, wie sie das deutsche Wahlrecht kennt und die regelmäßig zu einer Aufblähung des Parlaments führen können, gibt es in Ungarn nicht. Allerdings gibt es „Überhangstimmen“ für die Parteilisten. Das sind alle Wahlstimmen für die Direktkandidaten, die nicht gewählt wurden; diese finden auf der Parteiliste Berücksichtigung (Verliererkompensation). Umgekehrt erhält die Partei, deren Direktkandidat gewählt wurde, die Stimmen, die der Direktkandidat nicht mehr für seinen Erfolg benötigte, als Überhangstimmen angerechnet (Gewinnerkompensation). Somit hat es also Auswirkungen, ob ein Direktkandidat haushoch oder nur sehr knapp seinen Wahlkreis gewinnt, die Stimmen für die Verlierer sind nicht verloren!

Was wurde 2010-2012 geändert?

Damals wurden umfangreiche Änderungen beschlossen. So wurde die Parlamentsgröße von 386 auf 199 Sitze reduziert. Zugleich verringerte sich die Zahl der Wahlkreise von 176 auf 106, wodurch sich der Anteil der direkt gewählten Abgeordneten von 45,6 % auf 53,3 % erhöhte. Außerdem genügt nunmehr bereits eine einfache Mehrheit im ersten Wahlgang für ein Direktmandat, ein zweiter Wahlgang, wie es ihn bis 2010 in dem Falle gab, dass kein Direktkandidat mehr als 50% der Stimmen auf sich vereinigen konnte, entfällt damit. Zudem erhielten Auslandsungarn, die sich registrieren lassen, ein Wahlrecht zuerkannt, welches sich allerdings auf die Listenstimme beschränkt, ein Direktkandidat ist nicht wählbar. Vor vier Jahren nutzen knapp 130.000 Auslandsungarn diese Wahlmöglichkeit, dieses Mal ließen sich schon bis Anfang März fast dreimal so viele Auslandswähler registrieren, endgültiger Meldeschluss war der 24. März.
Als „Auslandsungar“ gilt dabei, wer keinen Wohnsitz in Ungarn hat. Größtenteils sind das Angehörige der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern. Ungarische Staatsbürger, die im Ausland arbeiten, geben ihren Wohnsitz – unzulässigerweise – in Ungarn in der Regel nicht auf, behalten also ihre „Wohnsitzkarte“ (lakcímkártya). Würden sie ihren Wohnsitz in Ungarn abmelden, hätten sie auch nur noch eine Parteienstimme. Da bei den letzten Wahlen nur knapp 30.000 Ungarn mit einem Wohnsitz in Ungarn vom Ausland aus an den Wahlen teilnahmen, die tatsächliche Zahl dieser Personen aber mehrere hunderttausende umfasst, geht man davon aus, dass viele ihre Stimmenabgabe mit einem Besuch in der Heimat verbinden.
Denn es ist nicht so einfach, vom Ausland aus zu wählen. Es gibt in Ungarn nämlich grundsätzliche keine Briefwahl. Wer einen Wohnsitz in Ungarn hat, muss in den zwei Wochen vor der Wahl persönlich in einem Konsulat abstimmen. Ähnliches gilt für Wahlberechtigte, die am Wahltag in Ungarn nicht in ihrem Wahlkreis sind. Diese können sich noch bis zum 6. April ummelden, um dann in einem anderen Wahlkreis ihre Stimme abzugeben. Ihre Direktstimme bezieht sich dann natürlich auf ihren Heimatwahlkreis. Anders werden die Auslandsungarn behandelt, die nicht im Mutterland leben, diese können ihre (eine) Stimme per Briefwahl abgeben.
Zudem wurden die Wahlkreise neu zugeschnitten. Inwiefern die Vorwürfe, der damals mit einer 2/3-Mehrheit regierende Fidesz hätte die Neuaufteilung parteiisch vorgenommen, stichhaltig sind, soll an dieser Stelle nicht analysiert werden. Auf jeden Fall wurden die Wahlkreise hinsichtlich der Zahl der Wahlberechtigten angeglichen. Gab es in der Größe der Wahlkreise zuvor teilweise erhebliche Abweichungen, so darf die Zahl der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis nunmehr um höchstens 20% vom Durchschnitt abweichen, d.h. landesweit sind zur Erlangung eines Direktmandats in etwa gleich viele Stimmen notwendig.
Zuletzt sei noch erwähnt, dass sich die gewählten ungarischen Parlamente stets als sehr stabil erwiesen. Auch wenn die Abgeordneten teilweise sehr konträre Ansichten vertraten, gab es seit der politischen Wende 1990 noch nie (!) vorgezogene Wahlen. Das ist nicht nur für Mittelosteuropa eine absolute Ausnahme. Ein Grund hierfür ist, dass es das Wahlsystem von Anfang ein zersplittertes Parlament verhinderte, denn es gehörten stets zwischen vier und sechs Fraktionen dem hohen Hause an.
Noch detailliertere Informationen zum Wahlsystem in Ungarn auf Deutsch finden Sie auf der Seite des Nationalwahlamtes: www.valasztas.hu/web/nationalwahlamt