Immer mehr Ungarn sind auf dem Arbeitsmarkt aktiv. Die Beschäftigungsrate in der Altersgruppe von 15 bis 64 Jahren stieg im ersten Halbjahr auf 67,6% bzw. 4,394 Millionen, das sind 1,9% bzw. 91.000 Personen mehr als im Vorjahr, teilte das Statistikamt mit.
2010 lag der Beschäftigungsstand noch bei 54,5%. Angesichts einer stetig höher werdenden Lebenserwartung darf es als erfreulich bezeichnet werden, dass sich das nun anscheinend auch am Renteneintrittsalter zeigt. Vor 7 Jahren arbeitete nicht einmal jeder 3. im Alter von 55 bis 64 Jahren, mittlerweile ist es nur noch jeder 2. War in Ungarn lange Zeit unter allen Regierungen Frühverrentungen weitverbreitet üblich, so scheint dieser Trend vorerst gestoppt. Die Zahlen überraschen umso mehr, als das im öffentlichen Dienst heute 8% weniger beschäftigt sind als noch im Vorjahr, auch die Zahl der im Ausland einer Beschäftigung nachgehenden Ungarn stagniert, nachdem sich dieser Wert in den Vorjahren jeweils deutlich erhöht hatte.
Die hohe Beschäftigungsrate geht einher mit einer niedrigen Arbeitslosenrate von 4,5%. In den EU-Mitgliedsstaaten gibt es nur in Deutschland sowie Tschechien und Malta noch geringere Werte. Vielmehr haben die Unternehmen immer mehr mit einem Personalmangel zu kämpfen. Neben der verarbeitenden Industrie findet man im Bau- und Tourismusbereich kaum noch Arbeitnehmer und dementsprechend viele unbesetzte Stellen.
Insofern überrascht es wenig, dass der Durchschnittsbruttoverdienst um 12,5% auf 290.000 Forint anstieg. Da sich die Abgabenschlüssel für Arbeitnehmer und –geber nicht wesentlich änderten, sind auch die Nettolöhne um eben jene 12,5% gestiegen. Sie liegen – ohne Berücksichtigung von Steuerermäßigungen für Kinder – in der Privatwirtschaft bei 202.500 Forint und im öffentlichen Dienst bei 175.000 Forint. Da die Inflation 2,3% betrug, blieb den Arbeitnehmern unterm Strich ein realer Lohnzuwachs von gut 10%.
Die ungarischen Gewerkschaften werden der kapitalistischen Logik von Angebot und Nachfrage folgend auch immer mutiger, sowohl was die Höhe der Lohnforderungen als auch deren streikbewährte Durchsetzung angeht. So kam es in diesem Monat bei Tesco bereits zu Streiks, um eine Lohnerhöhung von bis zu 25% durchzusetzen. Auch bei Audi und Ende 2016 bei Mercedes kam es zu Arbeitsniederlegungen, die letztlich in deutlichen Lohnerhöhungen mündeten.
Hier in Győr, wo Ungarn-TV sein zentrales Büro hat, machen wir zunehmend die Erfahrung, dass handwerkliche Dienstleistungen oft er nach einer zum Teil erheblichen Wartezeit erbracht werden können. Die dafür verlangten Preise ziehen entsprechend an. Unter diesen Voraussetzungen lohnt es sich für viele auch nicht mehr, im „nahen“ Österreich zu arbeiten. Fahrtzeit und -kosten in Ansatz gebracht rechnet es sich für vieleschlichtweg nicht mehr, dorthin täglich zu pendeln, von den verkehrstechnischen Unwägbarkeiten insbesondere an der Grenze ganz zu schweigen. In Ungarn eher unterdurchschnittlich bezahlte Bereiche stehen dagegen quasi im direkten Lohnwettbewerb mit dem Nachbarn. Warum sollte eine Verkäuferin in Westungarn auch am Sonntag hinter der Verkaufstheke stehen, wenn sie im nahen Outletcenter Parndorf mit deutlich weniger Arbeitstagen und freien Sonntagen deutlich mehr verdienen kann?
von Stefan Höhm